Peter Nagel

Vom Abbild zum Sinnbild

Eine reichhaltige Minestrone komponiert aus 15 verschiedenen Gemüsesorten verbreitet ihren Duft im toscanischen Bauernhaus.
Nach einem Tag, an dem wir unsere nähere Umgebung zeichnend und malend erforscht haben, treffen wir uns abends zur gemeinsamen Essens- und Gesprächsrunde. Wir – das ist eine Gruppe von zehn Studentinnen der Malklasse, die eine 14-tägige Toscana-Exkursion unternehmen. Die zwölfte dürfte es nun schon sein im Laufe von 10 Jahren.

Künstlerische Lehre in einem Eldorado von Sinnlichkeit für Augen, Hand und Gaumen geht wie von selbst. Den farbigen Reichtum der Landschaft vom Schwarzgrün der schlanken Zypressen bis zum silbrigen Graugrün der Oliven, die Formen der an den Berg geklebten Bauten zu erleben, setzt kreative Kräfte frei, die – nachweislich – bei vielen Studentinnen diese Exkursionen zu einem entscheidenden Schlüsselerlebnis werden lassen.

Der Weg vom Wahrnehmungstraining zur verdichtenden Abstraktion hat sich für bestimmte Temperamente beim Studium der Kunst immer wieder bewährt – auch heute noch. Analog zur Entwicklung der Künste ändern sich die Methoden und Haltungen. Zum klassischen Naturstudium tritt beispielsweise die Sammeltätigkeit, die fotografische Bestandsaufnahme, die Störversuche durch Eingriffe und Infragestellen der sichtbaren Wirklichkeit.

Die Minestrone ist verspeist. Eigentlich soll der Tag jetzt ausklingen bei unserer abendlichen Gesprächsrunde. Doch es gibt noch etwas zu tun. Jemand meldet, draußen in der Kühle der Nacht schlachte Bonino ein Lamm. Im Scheinwerfer erinnert der aufgeschlitzte Körper in seiner blutigen Farbkraft an ein ähnliches Gemälde des Franzosen Soutine. Schnell sind einige Feldstaffeleien aufgestellt und einige Lampen gesetzt. Diese Gelegenheit dürfen wir uns nicht entgehen lassen. Es gibt noch etwas zu malen.

aus: Katalog »Klassentreffen 4«, Edition Salzau 2002